Weichenstellung für ein nachhaltiges, kostengünstiges und sicheres Energiesystem: Bewertung der aktuellen BMWK- und BNetzA-Papiere

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Am 2. August hat das Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) ein Optionenpapier mit dem Titel „Strommarktdesign der Zukunft – Optionen für ein sicheres, bezahlbares und nachhaltiges Stromsystem“ veröffentlicht. Langersehnt und mit hohen Erwartungen.

In dem Papier werden vier zentrale Handlungsfelder erläutert und in Teilen schon entsprechende Umsetzungsvorschläge gemacht:

  • Ein Investitionsrahmen für erneuerbare Energien
  • Ein Investitionsrahmen für steuerbare Kapazitäten
  • Lokale Signale
  • Nachfrageseitige Flexibilitäten heben

Als Unternehmen, das Industrieunternehmen, Stadtwerke und Investoren von Großbatteriespeichern in Flexibilitätsfragen berät und diese Flexibilität auf allen Kurzfristmärkten vermarktet, treibt uns vor allem die Frage an, wie mittels neuer Technologien und Verhaltensänderungen im Anlagenbetrieb unser Stromsystem beziehungsweise mit Blick auf die Sektorenkopplung unser gesamtes Energiesystem effizienter genutzt werden kann. Es besteht Konsens darüber, dass die physische Infrastruktur, ergo das Netz, ausgebaut werden muss. Es besteht aber auch zunehmend Konsens darüber, dass dies nicht „für das letzte kW Spitzenleistung“ – sei es auf der Erzeuger- oder auf der Nachfrageseite – erfolgen sollte. Die Lösung liegt in der oben beschriebenen effizienteren Ressourcennutzung. Der Schlüssel dazu heißt Flexibilität. Wir haben nachgezählt: 144 Mal wurde der Begriff „Flexibilität“ verwendet und als Querschnittsaufgabe durch alle Bereiche beschrieben. Teils mit komplexen Wechselwirkungen zu den anderen Handlungsfeldern.

Wir konzentrieren uns daher auf die beiden relevanten Handlungsfelder „steuerbare Kapazitäten“ und „nachfrageseitige Flexibilität“ und versuchen die Vorschläge mit einem Blick aus der Praxis einzuordnen.

Alternative Technologien müssen bei der praktischen Ausgestaltung des Kapazitätsmechanismus berücksichtigt werden

Steuerbare Kapazitäten sollen, als Komplementär zur volatilen erneuerbaren Stromerzeugung aus Wind und Sonne, in nur wenigen Stunden im Jahr die Versorgungssicherheit gewährleisten. Die bisherige Frage nach dem „Ob“ wandelt sich mit diesem Papier in die Frage nach dem „Wie“. Es geht also nicht mehr darum, ob wir einen Kapazitätsmechanismus in Deutschland einführen, sondern wie dieser realisiert wird. Es werden verschiedene Ausgestaltungsmöglichkeiten genannt:

  • Kapazitätsabsicherungsmechanismus durch Spitzenpreishedging
  • Zentraler Kapazitätsmarkt
  • Dezentraler Kapazitätsmarkt
  • Hybrider Kapazitätsmarkt mit zentralen und dezentralen Elementen kombiniert

Alle diese Ausgestaltungsformen haben unterschiedliche Vor- und Nachteile. Wir wollen sie primär anhand der Frage bewerten, wie geeignet uns die Ausgestaltungsformen für die Teilnahme alternativer Technologien wie nachfrageseitige Flexibilität oder Großbatteriespeicher erscheinen.

Ausgestaltungsmöglichkeiten und Herausforderungen eines Kapazitätsmechanismus in Deutschland

Beim zentralen Kapazitätsmarkt ist eine zentrale Instanz für die Gestaltung und Dimensionierung verantwortlich. Sie legt die Spielregeln (die Teilnahmebedingungen) fest und definiert fortlaufend, wie viel steuerbare Kapazität benötigt wird. Somit ist das eine recht einfache Form, die vergleichsweise unbürokratisch umsetzbar ist. Die Schwachstellen und Herausforderungen werden aber bei der Praxisumsetzung offensichtlich,  vor allem mit Blick auf die zuvor genannten alternativen Technologien. Die Teilnahmebedingungen, in Form von konkreten sogenannten Präqualifikationsbedingungen, müssen so formuliert werden, dass die geforderte und auch notwendige Technologieoffenheit auch in der Praxis gewährleistet ist. Hierbei sind konkrete technische, betriebliche und auch kommerzielle Kriterien zu definieren, die eine Teilnahme ermöglichen bzw. ausschließen. Diese konkreten Bedingungen im Detail so zu formulieren, dass alle in Frage kommenden Optionen – beispielsweise sowohl Gas- beziehungsweise H2-Kraftwerke als auch alternative Kapazitäten wie industrielle Lasten oder Batteriespeicher – gleichberechtigt teilnehmen können, ist eine echte Herausforderung. Um jedoch möglichst viele Anlagenklassen und damit die günstigsten Kapazitäten nutzen zu können, muss echte Chancengleichheit herrschen. Unsere eigenen Erfahrungen mit bereits heute existierenden Kapazitätsinstrumenten wie bspw. der Kapazitätsreserve sowie Beispiele aus anderen Ländern zeigen, dass dieser Punkt absolut kritisch ist und im Detail gut ausgestaltet werden muss.

Im dezentralen Kapazitätsmarkt wird die Verantwortung für eine gesicherte Strombelieferungen auf die Versorger bzw. im Falle der energieintensiven Industrie auf die Verbraucher selbst übertragen. Die dezentrale Variante bietet unterschiedliche Möglichkeiten, wie Kapazitäten bereitgestellt werden können. Versorger können entscheiden, ob sie (1) die Verbrauchsreduktion ihrer Kunden in Zeiten von geringer Wind- & PV-Produktion anreizen, (2) in die Vorhaltung eigener Kapazitäten investieren oder (3) sogenannte Kapazitätszertifikate erwerben und sich darüber absichern. Allen gemein ist, dass ein sehr breites Marktwissen aller Experten (und Innovatoren) berücksichtigt wird und der Wettbewerbscharakter viel stärker enthalten ist. Vor allem die Form der Kapazitätszertifikate kann für die Teilnahme alternativer Technologien passender sein. Der größte Nachteil eines dezentralen Kapazitätsmarktes ist, dass sein Liquiditätshorizont nicht ideal zu den Investitionshorizonten von Großinvestitionen in Kraftwerke passt. Dies ist auch einer der offensichtlichen Gründe, warum das BMWK derzeit einen hybriden Ansatz favorisiert.

Beim hybriden Ansatz werden zentrale und dezentrale Kapazitätsmarktelemente miteinander kombiniert, mit dem Ziel das Beste aus beiden Welten zusammenzuführen. Die zentrale Komponente soll große langfristige Investitionen absichern. Die dezentrale Komponente soll Innovationen fördern und Zukunftsentwicklungen integrieren, die mit einem zentralen planerischen Ansatz heute noch gar nicht sichtbar sind.

Die entscheidende Frage wird sein, ob und wie gut dieses Konstrukt in die Praxis überführt werden kann.

  • Was wird geschehen, wenn die Ergebnisse im dezentralen Teil des Kapazitätsmarktes nicht wie erwartet ausfallen? Wie lange wird man durchhalten können? Vor allem mit Blick auf Investitions- und Planungssicherheit alternativer Technologien beziehungsweise deren sich dahinter entwickelnder Geschäftsmodelle. Oder wird es eine Verschiebung der Kapazitäten hin zur zentralen Komponente geben, so dass dann am Ende faktisch doch ein zentraler Kapazitätsmarkt existiert?
  • Wie gut kann ein solches noch nie dagewesenes Konstrukt umgesetzt werden? Entwickelt sich ein hybrider Kapazitätsmarkt zu einem Bürokratiemonster oder wird man eine in der Praxis gut umsetzbare und damit auch akzeptierte Form der Ausgestaltung finden?
  • Ist eine Umsetzung auf der benötigten Zeitschiene machbar? Auch mit Blick auf Genehmigungen i.R. des europarechtlichen Rahmens.

Wenn diese Fragen zufriedenstellend beantwortet und umgesetzt werden können, kann ein hybrider Kapazitätsmarkt durchaus ein anspruchsvoller, aber innovativer Weg sein, Pragmatismus, Risikoreduktion und langfristige Planungssicherheit (zentrale Komponente) mit Innovation und Marktwirtschaft (dezentrale Komponente) zu verbinden.

Der Bedarf an flexiblem Verhalten ist schon heute immens – bestehende Hemmnisse müssen abgebaut und weitere Anreize geschaffen werden

Der Paradigmenwechsel, dass Flexibilität eine zentrale Rolle in unserem künftigen Energiesystem spielen wird, ist zunächst keine spektakuläre Neuigkeit. Neu ist jedoch, dass:

  • die Notwendigkeit, sowohl nachfrageseitige als auch – im Falle von Eigenerzeugungsanlagen hinter dem Zählpunkt – erzeugerseitige Flexibilität deutlich stärker zu nutzen immer offensichtlicher wird.
  • mit zunehmender Entschlossenheit daran gearbeitet wird, bestehende Hürden abzubauen und die richtigen Anreize für flexibles Verhalten zu setzen.

Schon heute haben wir viele Zeiten, in denen die Erneuerbaren so viel Strom produzieren, dass wir im wahrsten Sinne des Wortes nicht wissen, wohin damit. Im Jahr 2024 haben wir bereits am 29. Juli so viele Stunden mit negativen Day-Ahead-Preisen gesehen, wie im gesamten Jahr 2023. Die Preise für die Vorhaltung von Regelreserve sind vor allem entlang der PV-Erzeugung sehr hoch, weil in diesen Zeiten kaum noch regelbare Erzeuger für volle 4h-Zeitscheiben verfügbar sind bzw. um verfügbar – also in Betrieb – zu sein, deren Opportunitätskosten so hoch sind, dass sie die entsprechend hohen Vergütungen für die Vorhaltung von Regelreserve benötigen. Aus Sicht der Verteilnetzbetreiber, an die der weit überwiegende Teil der EE-Anlagen angeschlossen ist, stellt sich das Problem noch ungleich größer dar. Diese haben bisher deutlich weniger dedizierte und etablierte Instrumente als die Übertragungsnetzbetreiber mit Redispatch und Regelreserve.

Im künftigen Energiesystem, vor allem mit Blick auf die großen EE-Ausbaupläne, kann die Antwort daher nur sein, flexibles Verhalten auf allen Netzebenen zu fördern. Dazu gehört der Abbau bestehender Hemmnisse ebenso wie das Setzen der richtigen Anreize – unter anderem in Form entsprechender Netzentgelte.

Reform der Industrienetzentgelte: Notwendige Operation am offenen Herzen

Eine der größten, wenn nicht gar die größte Herausforderung in diesem Kontext ist die Reform der individuellen Netzentgeltregelung für energieintensive Industrieverbraucher. Die aktuell gültige Regelung incentiviert zwei unterschiedliche Verhaltensarten: (1) Lastreduktion bei vorab definierten Hochlastzeitfenstern, um der Lastspitze im vorgelagerten Netz entgegenzuwirken; (2) konstantes Abnahmeverhalten, um Grundlastkraftwerke optimal auszulasten. Für beide Arten gab es gute Gründe, das jeweilige Abnahmeverhalten zu fördern. Mit der Veränderung des Erzeugungsmixes hin zu einem immer größeren Anteil volatiler erneuerbarer Erzeugung ändern sich diese Rahmenbedingungen jedoch zunehmend, so dass sich die Grundlage für die beschriebenen Verhaltensweisen stark verändert (Hochlastzeitfenster) bzw. stellenweise völlig schwindet (Bandlastabnahme).

In der Theorie ist die Sache also schnell beschrieben. In der Praxis ist die Situation jedoch nicht ganz so einfach. Viele Unternehmen der Grundstoffindustrie (beispielsweise Papier, Chemie, Metall, Glas) haben ihre Prozesse über Jahrzehnte auf genau die zuvor beschriebene Betriebsweise hin optimiert. Sei es die Anlagenfahrweise selbst, aber auch die vor- und nachgelagerten Prozessschritte. Zum Beispiel im Stoffverbund oder bei der Lagerhaltung von Rohstoffen, Halbfertig- und Endprodukten. Manche Prozesse können sogar – zumindest Stand heute – überhaupt nicht in substanziellem Umfang flexibilisiert werden.

Hier zeigt sich das ganze Dilemma. Was aber ist die Schlussfolgerung daraus? Gar nichts tun? Keine Option! Aus mehreren Gründen:

  1. Die Ausnahmeregelung wird europarechtlich ohnehin nicht auf Dauer Bestand haben können und daher ohnehin irgendwann enden.
  2. Nur weil nicht alle flexibel sein können, können wir mit Blick auf unser künftiges Energiesystem nicht auf die verzichten, die es sein können.

Parallel zur „großen Diskussion“ um das zukünftige Strommarktdesign hat die Bundesnetzagentur damit begonnen, eine Reform der derzeit geltenden Netzentgeltregelungen für die energieintensive Industrie zu konsultieren. Vor dem Hintergrund des beschriebenen Spannungsfelds wird es wichtig sein, Flexibilitätshemmnisse abzubauen und diejenigen zu fördern, die flexibel sein können. Daraus kann sich sowohl ein Wettbewerbsvorteil für die entsprechenden Unternehmen ergeben, wenn sie beispielsweise günstigen und nachhaltigen EE-Strom abnehmen können, als auch ein volkswirtschaftlicher Wert, wenn die entsprechenden Unternehmen zum Beispiel auf hohe Preissignale reagieren und Teile ihrer Produktion verschieben. Gleichzeitig muss jedoch auch anerkannt werden, dass es Branchen und Unternehmen gibt, deren Stromnachfrage sich nicht oder nicht verhältnismäßig flexibilisieren lässt. Für diese Unternehmen muss sichergestellt werden – und das ist vermutlich keine Aufgabe der Regulierungsbehörde – dass sie weiterhin eine wettbewerbsfähige Grundlage in unserem Land haben und nicht abwandern (müssen). Die energieintensive Industrie, insbesondere in den Grundstoffbranchen, stehen am Anfang der industriellen Wertschöpfungsketten und bilden mit ihren nachgelagerten Kunden oftmals ganze Produktionscluster, die nicht leichtfertig gefährdet werden dürfen.

Ambitionierte Ziele & reale Risiken zur Stärkung des Innovations- und Industriestandortes Deutschland verbinden

Als Technologienation und Gesellschaft, die wie kaum eine andere Industrienation auf Innovationen angewiesen ist, muss es unser Anspruch sein, neue und anspruchsvolle Wege zu gehen. Der Umbau unseres Energiesystems, bei dem wir neue, nachhaltige Erzeugungstechnologien mit neuen, digitalen Technologien verbinden, ist genau dieser Weg. Gleichzeitig müssen wir aber auch die Risiken und die wirtschaftlichen und politischen Realitäten im Blick behalten und dürfen die kurzfristige Wettbewerbsfähigkeit unseres Industriefundaments nicht aufs Spiel setzen.

 

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